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Frau Blümel will spazieren gehen

Trotz ihrer Demenz ist Helene Blümel (l.) gerne selbstständig unterwegs. Diese Freiheit wurde ihr in enger Absprache gewährt, was nicht immer auf Verständnis in der Öffentlichkeit stieß.

Teilhabe von Menschen mit Demenz zwischen Sicherheit und Selbstbestimmung

Die Menschen werden immer älter, und damit steigt auch der Anteil von Menschen mit Demenz. Allein 320.000 sind es in Nordrhein-Westfalen. Der schleichende Verlust der kognitiven Fähigkeiten hat weitreichende Folgen. Wenn die zeitliche und örtliche Orientierung, die Selbstständigkeit und ein geregelter Tag-Nacht-Rhythmus verloren gehen, kann Demenz im fortgeschrittenen Stadium eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung erforderlich machen. Für pflegende Angehörige ist das eine herausfordernde, manchmal überfordernde Aufgabe. Die Pflegeeinrichtungen des Netzwerks können diese Aufgabe zwar gut wahrnehmen, doch ihre Arbeit steht in einem großen Spannungsfeld unterschiedlicher Ansprüche und Erwartungen des Betroffenen selbst, der Angehörigen, der professionell Pflegenden und der Öffentlichkeit.

Ein Beispiel: Helene Blümel ist gebürtige Sendenhorsterin und ist Zeit ihres Lebens eigenständig in ihrer Stadt unterwegs gewesen. Trotz ihrer fortschreitenden Demenz sind Helene Blümel die selbstständigen Spaziergänge zu ihrer Tochter sehr wichtig. Die Pflegenden des St. Elisabeth-Stifts respektieren diesen Wunsch, der Helene Blümels biografischen Gewohnheiten entspricht, ihren aktuellen Fähigkeiten und ihrem Bedürfnis, selbst mit dem Rollator in die Stadt zu gehen. Dass dieser Wunsch möglicherweise auch die Gefahr des Verlaufens birgt, wird gesehen und wurde intensiv mit Tochter Annerose Westphal besprochen.

Bei der Abwägung aller, auch ethischer Aspekte wurde ganz bewusst die Perspektive eingenommen: Was hätte Frau Blümel vor dem Hintergrund ihrer biografischen Geschichte und persönlicher Vorlieben gewollt, wenn sie noch selbst für sich entscheiden könnte? Die Entscheidung, an der Angehörige, Leitung und Mitarbeiter des St. Elisabeth-Stifts und der behandelnde Arzt beteiligt waren, fiel einvernehmlich zugunsten der selbstbestimmten Spaziergänge aus: Helene Blümels Freiheit und Selbstbestimmung wurden höher bewertet als das Risiko körperlich zu Schaden zu kommen.

  • Aus medizinischer Sicht spielte eine Rolle, dass Bewegung Menschen mit Demenz helfe, körperliche Spannung abzubauen ohne dafür Medikamente nehmen zu müssen.
  • Als Angehörige vertrat Annerose Westphal den Standpunkt: „Ich will meiner Mutter nicht ihre Freiheit nehmen, solange sie sich nicht selbst und andere gefährdet.“
  • Aus pflegerischer Sicht sprach für die Spaziergänge, dass Frau Blümel so behütet wie möglich, Freiheit und Selbstbestimmung in ihrer fortschreitenden Demenz leben kann.
  • Netzwerkkoordinator Detlef Roggenkemper argumentiert aus Dienstgeberwarte, dass die gemeinsam getroffene Entscheidung auch den Mitarbeitern Sicherheit gibt: „Als kirchlicher Träger wollen wir Mitarbeiter davor schützen, dass sie in hektischen Situationen einsame Entscheidungen treffen.“

Nicht immer stieß diese Abwägung auf Verständnis. Wenn Helene Blümel auf ihren Stadtgängen nicht weiter wusste, nach dem Weg fragte und das Namensschild auf ihrem Rollator sie als Bewohnerin des St. Elisabeth-Stifts zu erkennen gab, wurde sie zwar zurück ins Stift begleitet, die Tochter oder die Polizei informiert, aber mehr oder weniger unausgesprochen mit dem unterschwelligen Vorwurf, die  Mitarbeiter des St. Elisabeth-Stifts hätten nicht verantwortlich auf sie geachtet.

„Würdevolles Altern steht im Spannungsfeld der Werte ,geschützt und frei, behütet und selbstbestimmt‘“, so Hausleitung Elisabeth Uhländer-Masiak. Konflikte in der öffentlichen Wahrnehmung entstünden vor allem dann, wenn die Öffentlichkeit erwarte, dass Menschen mit Demenz geschützt und behütet werden, während professionelle Pflege in verantwortlichem Handeln darauf ziele, Menschen mit Demenz ganzheitlich zu sehen, dabei ihre Selbstständigkeit solange wie möglich zu erhalten, ihre Selbstbestimmung zu akzeptieren und ihnen Sicherheit zu bieten. „Wir können und wollen Menschen mit Demenz nicht anbinden.“

Annerose Westphal wünscht sich: „Es sollte mehr Wertschätzung in die Köpfe, dass sich Menschen mit Demenz frei bewegen können.“ Dazu bedarf es aber auch einer gewissen Sensibilität der Stadtgesellschaft, Menschen mit Demenz wahrzunehmen und ihnen zu helfen, wenn sie Unterstützung benötigen. Dazu zitiert Hausleitung Aurelia Heda eine Mitarbeiterin, die es einmal auf den Punkt brachte: „Man kann davon ausgehen, dass ein alter Mensch mit Rollator an einer Tankstelle eher Hilfe braucht, als dass er tanken möchte.“ Für solche Situationen,  so Netzwerkkoordinator Roggenkemper, bietet beispielsweise das DemenzNetz Sendenhorst Albersloh Schulungen an, damit Geschäftsleute und Passanten wissen, wie sie reagieren können, wenn sich ein verwirrter Mensch nicht mehr zurechtfindet.

„Menschen mit Demenz brauchen die Solidarität der Gemeinschaft. Ebenso haben unsere Mitarbeiter einen Vertrauensvorschuss verdient, dass sie in Absprache und zum Wohle des Bewohners handeln“, meint Elisabeth Uhländer-Masiak. „Wir können gemeinsam ein Netz knüpfen, aber wir müssen auch gemeinsam aushalten, dass jedes Netz Lücken hat. Man kann Menschen nicht vor allem beschützen, ohne niemals Zwang auszuüben. Das fällt Angehörigen manchmal schwer und stößt in der Öffentlichkeit oft noch auf Unverständnis.“